Workshop Goethe-Universität Frankfurt

„Not kennt kein Gebot? Hunger und Devianz in Rechtsgeschichte und Kriminologie“

Hunger gehört bis heute zu den größten ungelösten Problemen der Menschheit. Die Unterernährung gravierender Teile der Weltbevölkerung hat zuletzt stark zugenommen und damit wieder an Bedeutung gewonnen. Das Ernährungsproblem betrifft dann nicht nur einzelne Menschen, sondern bedroht ganze Gesellschaften. Nahrungsmittelknappheit kann dabei unterschiedliche Formen annehmen und von wiederkehrenden, durch Missernten, Kriege oder Naturkatastrophen ausgelösten Hungersnöten bis hin zu längeren Perioden der Unterernährung von einzelnen Gruppen oder ganzen Bevölkerungen reichen.

Als existenziell erlebtes Bedrohungsszenario bedeuten Unterernährung – und bereits das Argument mit Hunger – erhebliches Konfliktpotential. Das betrifft die zwischenstaatliche Ebene (wie die aktuelle Debatte um den Holodomor in der Ukraine 1932/33 zeigt), aber auch den innergesellschaftlichen Zusammenhang und damit auch den Bereich des Strafrechts. Empirisch betrachtet kann Unterernährung mit bestimmten Alltagsdelikten koinzidieren (z.B. sog. „Mundraub“). Hunger kann aber auch als Argument im strafrechtlichen, strafrechtspolitischen und kriminologischen Diskurs dienen. So interessierte sich beispielsweise die deutsche Kriminologie erst im Zusammenhang mit der Ruhrkrise nach dem ersten Weltkrieg für Hunger als Motiv für Kriminalität, also zu einem Zeitpunkt, als man die Verantwortung nicht bei sich selbst, sondern bei äußeren Feinden suchen konnte.

Angesichts der Bedeutung des Themas überrascht es, dass sich weder die (rechts-)historische noch die kriminologische Forschung der Frage nach der Bedeutung der Ernährung für Delinquenz und die Strafrechtssysteme bislang in nennenswertem Umfang angenommen haben. So wurden zwar beispielsweise in der sozialhistorischen Literatur Hungerrevolten ausführlich beschrieben und dabei auch die obrigkeitliche Repression mit Mitteln des Strafrechts angesprochen. Hungerbedingte Alltagskriminalität in Phasen chronischer Unterernährung wurde dagegen bislang noch nicht eingehend untersucht.

Der geplante Workshop möchte daher zu einem interdisziplinären Gespräch über entsprechende Problemstellungen, Methoden und Quellen anregen und sich der Frage zuwenden, wie historische und aktuelle Strafrechtssysteme Probleme von Hunger und Unterernährung erfassten, verarbeiteten und entsprechende Konflikte zu lösen (oder zu verdrängen) suchten.

Was unter „Hunger“ zu verstehen ist, soll dabei pragmatisch verstanden werden: Die Ernährungssituation des Menschen und damit die mit „Hunger“ und „Unterernährung“ umschriebenen Mangelerscheinungen lassen sich sowohl als medizinisch-anthropologisch vorgegebenes, insofern auch historisch mehr oder weniger konstantes Phänomen betrachten, als auch – und hier wird wohl der Schwerpunkt des Projekts liegen – als soziales Konstrukt, das im gesellschaftlichen und strafrechtlichen Diskurs durch Prozesse der Zuschreibung und Aushandlung historisch durchaus unterschiedlich konstruiert (oder auch verschwiegen) werden kann. Hunger kann also sowohl als ein in einer bestimmten Situation vorfindbarer physiologischer Zustand in den Blick genommen werden, als auch als Argument im gesellschaftlichen und damit auch im strafrechtlichen und kriminologischen Diskurs.

Zwar geht es uns schwerpunktmäßig um Forschungsfragen, die strafrechtshistorische und kriminologische bzw. strafrechtliche Kompetenz erfordern. Der Workshop möchte aber als erstes Gespräch über diesen Themenkomplex einen möglichst weitreichenden interdisziplinären Dialog anstoßen und daher laden wir ausdrücklich auch Vertreterinnen und Vertreter aus dem Bereich der Medizin- / Psychiatrie- / Psychologie- / Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, sowie der anthropologischen, soziologischen, ethnologischen oder theologisch-kirchengeschichtlichen Forschung herzlich ein, Exposés einzureichen. Dem Charakter als Workshop entspricht es, dass nicht nur abgeschlossene Forschungsprojekte, sondern auch Werkstattberichte aus aktuell laufenden Projekten willkommen sind. Wichtig ist allerdings der Fokus auf die o.g. Bezugspunkte (historische, strafrechtliche oder kriminologische Dimension).

Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch. Für jeden Vortrag ist eine Dauer von 20 Minuten plus Zeit für Diskussion vorgesehen. Tagungsgebühren werden nicht erhoben. Honorare können nicht gezahlt werden. Die Veranstalter bemühen sich derzeit, Drittmittel für die Reise- und Übernachtungskosten der Referierenden einzuwerben. Nach der Tagung ist eine Druckfassung der Referate geplant.


Bitte senden Sie Ihre Vorschläge in einem kurzen Exposé bis zum 10.3.2023 per E-Mail an
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

Veranstalter: Prof. Dr. David von Mayenburg und Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Fachbereich Rechtswissenschaft, Goethe-Universität Frankfurt/M.


Veranstaltungsort: Goethe-Universität Frankfurt/M., Campus Westend, Theodor-W.-Adorno-Platz 1, 60323 Frankfurt/M.

 

 

 

Aktuelles

DFG-Graduiertenkolleg "Folgen Sozialer Hilfen"

Tagung am 07./08. September 2023

Die Tagung wird von Kollegiat*innen der ersten Kohorte des DFG-Graduiertenkollegs „Folgen sozialer Hilfen“ organisiert und findet am 7./8. September 2023 an der Universität Siegen (Campus Unteres Schloss) statt. Sie richtet sich an ein interessiertes Fachpublikum aus der theoretischen und empirischen Forschung der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie. In Keynotes, Panelbeiträgen und Postersessions werden die folgenden Themenfelder vorgestellt und diskutiert:

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Kriminologisches Sommerfest 01.07. Berlin

Kriminologiches Sommerfest von GiwK und KrimJ am 01.07.2023 in Berlin

Die Zeitschrift Kriminologisches Journal (KrimJ) und die Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK) lade ein zum Sommerfest mit Getränken & Snacks, Preisverleihung des Fritz-Sack-Preises und Buchvorstellung: Marxism and Criminology. A History of Criminal Selectivity von Valeria Vegh Weis.

Ort: Humboldt-Universität zu Berlin, Ziegeleistraße 4

Zeit: 16:00 Uhr

Die Teilnahme ist kostenlos. Für die Planung bitten wir um Anmeldung bis spätestens 20.06.23 unter: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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Jahrestagung Sektion soziale Probleme und soziale Kontrolle

Call for papers „Alles neu!? Problemsoziologische Perspektiven auf Semantiken und Praktiken sozialer Innovation und Transformation“

Jahrestagung der Sektion soziale Probleme und soziale Kontrolle in der Deutschen Gesell-schaft für Soziologie am 17./18.11.2023 in Hannover

Wenngleich Ideen, die gegenwärtig mit dem Begriff der sozialen Innovation belegt werden, selbst keineswegs Anspruch auf Neuigkeit erheben können (vgl. u. a. Popplow 2021), ist in jüngerer Zeit ein vermehrtes politisches wie auch wissenschaftliches Interesse an dem theo-retischen Konzept sowie entsprechend markierten empirischen Phänomen zu vermerken (Schüll et al. 2022; Howaldt 2022). Soziale Ungleichheiten, gesellschaftlicher Wandel und di-verse – aktuelle wie sich abzeichnende – Krisenphänomene (u. a. COVID-19-Pandemie, Kriege, Migrationsbewegungen, Klimawandel) leisten Diskussionen um soziale Innovation und Transformation zusätzlichen Vorschub. Diesen als miteinander verschränkt wahrgenomme-nen gesellschaftlichen Entwicklungen soll, zumindest auf programmatischer Ebene, durch so-ziale Innovationen begegnet werden – sie fungieren hier als „Instrumente gesellschaftlicher Gestaltung“ wie auch als Mittel zur „Steuerung sozialen Wandels“ (Schubert 2016: 409). Als konstitutiv für soziale Innovation gelten dabei Merkmale wie Anders- und Neuartigkeit sowie der Anspruch, gesellschaftliche Phänomene, Entwicklungen wie auch individuelle Lebensäußerungen unter „Bezugnahme auf gesellschaftlich hoch geachtete Werte und anerkannte Ziel-dimensionen“ (Schüll 2022: 33) zu einem ‚Besseren‘ zu beeinflussen.

 

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Workshop Goethe-Universität Frankfurt

„Not kennt kein Gebot? Hunger und Devianz in Rechtsgeschichte und Kriminologie“

Hunger gehört bis heute zu den größten ungelösten Problemen der Menschheit. Die Unterernährung gravierender Teile der Weltbevölkerung hat zuletzt stark zugenommen und damit wieder an Bedeutung gewonnen. Das Ernährungsproblem betrifft dann nicht nur einzelne Menschen, sondern bedroht ganze Gesellschaften. Nahrungsmittelknappheit kann dabei unterschiedliche Formen annehmen und von wiederkehrenden, durch Missernten, Kriege oder Naturkatastrophen ausgelösten Hungersnöten bis hin zu längeren Perioden der Unterernährung von einzelnen Gruppen oder ganzen Bevölkerungen reichen.

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Call for Papers zum KrimJ Schwerpunktheft 4/2023

„Method(ologi)en kritisch-kriminologischer Forschung“

Forschung in und über Kriminalisierungs- und Ausgrenzungsprozesse, soziale Probleme und soziale Kontrolle stellt sich besonderen Herausforderungen. Gegenstände kritisch-kriminologischer Forschungen sind Teil öffentlicher Problematisierungen und so normativ und (kriminal)politisch aufgeladen, bisweilen polarisieren sie. Dies liegt auch daran, dass die Gegenstände häufig aus eben jenen Praxisbezügen heraus generiert werden und gesellschaftliche Ordnungsverhältnisse adressieren.

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