Wirtschafts- und Finanzkriminalität
Call for Papers zu einem KrimJ-Schwerpunktheft 4/2025
In Bertolt Brechts Dreigroschenoper findet sich die berühmte Passage: „Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?“
Auch wenn im Zeitalter des elektronischen und virtuellen Finanzkapitalismus klassische Banküberfälle an Bedeutung verloren haben mögen, lässt sich die Frage nach wie vor als eine Herausforderung für die gesellschaftstheoretisch ambitionierte Kriminalsoziologie deuten. Ausbeutung und Ungerechtigkeit, so Brechts Anklage, sind der real existierenden kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzverfassung eingeschrieben. Diese stabilisiert ökonomische Macht, fördert unbegrenzte Kapitalakkumulation und verhindert soziale Reformen. Damit könnte man das Thema an die politische Ökonomie und auf die Literatur von Paschukanis bis Pistor verweisen, die demonstriert „How the law creates wealth and inequality“, so der Untertitel des Buchs von Katharina Pistor.
Jenseits der abstrakten Hypothese, dass auch legales ökonomisches Handeln innerhalb der existierenden gesellschaftlichen Ordnung oft (notwendig?) gegen deren selbst deklarierte normative Prinzipien (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit) verstößt, diese mithin Ideologie sind, bleibt genügend Raum für kritische Analysen zu Themen wie Normgenese (wer prägt die rechtlichen Bestimmungen zu Wirtschafts- und Finanzkriminalität), der Instanzenforschung (wie und warum wird Wirtschafts- und Finanzkriminalität – nicht oder nur sehr selektiv – verfolgt) oder die Untersuchung des undurchsichtigen Ökosystems der Geldwäsche, in dem organisierte Kriminalität und legale Wirtschaft zum gegenseitigen Vorteil kooperieren.
Die klassische Kriminologie nähert sich dem Thema Wirtschafts- und Finanzkriminalität mit dem Repertoire der Standarderklärungen. So diskutiert Gottschalk (2010) den Nutzen von Verhaltens-, Organisations- und Managementtheorien für die Erklärung kriminellen Verhaltens. Dabei geht es immer – der paradigmatische Ausgangspunkt konventioneller kriminologischer Erklärungen – um Faktoren, die das (kriminelle) Verhalten der Täter bestimmen.
Unterbelichtet bleiben Fragen der (regulatorisch-juristischen) Definition von Straftaten/Kriminalität in diesem Bereich, ein Thema, in dem die kritische Kriminologie traditionell zu Hause ist und zur Erhellung entsprechender Phänomene beitragen könnte. Auch der meist unhinterfragte Genderbias in dieser Diskussion bietet erhellende theoretische Anknüpfungspunkte, um die Orthodoxie gegen den Strich zu bürsten (Davies 2003). Das chronische Defizit an theoretisch nützlicher Empirie, sowie die Frage nach den angemessenen Methoden – auch dies ein kritisch-kriminologischer Dauerbrenner – lässt sich in diesem Feld gut analysieren: Wie kommt es, dass bei differenzierter Betrachtung die amtliche Buchhaltung zwar viele, aber kaum aussagekräftige Daten bereitstellt? Was lässt sich anhand spektakulärer, dank investigativ-journalistischer Recherche gut dokumentierter Einzelfälle (Enron, Wirecard, Signa, CumEx, UBS, etc.) über das Zusammenspiel von Banken, Aufsichtsbehörden, Wirtschaftsprüfern und Unternehmen lernen? Welche Methoden eignen sich zur Untersuchung von Wirtschaftsund Finanzkriminalität im Angesicht notorisch schwieriger Datenlage und exotisch verzweigter Verästelungen von Finanzströmen zwischen vernetzten Akteuren auf der Basis komplexer (steuer-)rechtlicher Konstrukte?
Für das Schwerpunktheft willkommen sind Beiträge aus allen Disziplinen, die empirisch orientierte Fallanalysen, theoretische oder methodische Herausforderungen des Oberthemas behandeln. Die fertigen Beiträge müssen bis zum 31.03.25 vorliegen und können bis zu 45.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) umfassen. Wer einen Beitrag beisteueren möchte, möge bitte eine kurze Konzeption (ca. eine halbe Seite) bis zum 15.05.2024 senden an: Reinhard Kreissl (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!) und Tobias Singelnstein (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!).
Davies, P. A. 2003. Is Economic Crime a Man’s Game? Feminist Theory, 4(3), 283-303.
Gottschalk, P. 2010. Theories of financial crime. Journal of Financial Crime 17 (2), 210-222.
Pashukanis, E. 2017. The general theory of law and Marxism. Routledge.
Pistor, K. 2019. The Code of Capital. How the Law Creates Wealth and Inequality, Princeton Uni Press