Schließung des Studienganges Internationale Kriminologie

Stellungnahme der Herausgeber*innen des Kriminologischen Journals zu geplanten Schließung des Masterstudienganges "Internationale Kriminologie" durch die Universität Hamburg

Als Herausgeber*innen der einzigen deutschsprachigen kritisch-kriminologischen Fachzeitschrift, dem Kriminologischen Journal (KrimJ), protestieren wir hiermit gegen die geplante Schließung des Masterstudienganges „Internationale Kriminologie“ seitens der Universität Hamburg. Denn das Ende dieses Studienangebotes träfe nicht nur einen äußerst beliebten Studiengang und deren Studierende, sondern auch die kriminologische und rechtssoziologische Forschung im deutschsprachigen Raum insgesamt.

 

 

Das Kriminologische Journal steht in der Tradition der kritischen und reflexiven Sozialwissenschaften und ist internationales Publikationsorgan für Beiträge interdisziplinärer Theoriediskussion und empirischer Sozialforschung, die staatliche Institutionen, Politiken sozialer Ausschließung und sozialer Kontrolle – durch Strafjustiz, Polizei, Sicherheitspolitik, Soziale Arbeit und Sozialpolitik, Massenmedien und Ideologieproduktion – ebenso zum Gegenstand macht wie die Dynamik von Konflikten und Formen von Widerständigkeit. Mit dem Vienna Center for Societal Security (VICESSE) sowie dem Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS), Innsbruck, sind derzeit zwei international renommierte Institute der Sicherheitsforschung institutionelle Mitherausgeber des KrimJ.

 

Der Masterstudiengang „Internationale Kriminologie“ sowie das ehemalige Institut für kriminologische Sozialforschung nehmen im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren eine Sonderstellung ein in der wissenschaftlichen Diskussion um Normalität und Abweichung, Kriminalität, und Risiken sowie entsprechenden Kontrolltechnologien und Interventionsformen. Dabei richtet sich der Blick gleichermaßen auf Prozesse der Ein- und Ausschließung wie auf die der Normgenese und Normalisierung. Der Masterstudiengang verfügt als einziger Kriminologiestudiengang in Deutschland, Österreich und der Schweiz über eine konsequente sozialwissenschaftliche Anbindung. Er vertritt damit, nach international anschlussfähigem Vorbild, eine Kriminologie, die nicht allein als Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaften fungiert, sondern eigenständige Fragestellungen, Methoden und Theorien entwickelt.

 

Der Studiengang trägt mithin die Bezeichnung „International“ nicht durch Zufall. Vielmehr widmet er sich der Analyse internationaler Entwicklungen, die eine Kriminologie hervorbringt, die die Rechts-, Gewalt- und Sicherheitsforschung in sich vereint. Sie setzt dies in ihrem Engagement in zahlreichen europäischen und internationalen Forschungs- und Lehrkooperationen um – allen voran ist hier das „Common Study Programme in Critical Criminology“ sowie der „Doctorate in Cultural and Global Criminology“ zu nennen. Hierunter fällt auch eine empirische Auseinandersetzung mit Aushandlungen auf der Makroebene, beispielsweise zu Genozid oder Umweltzerstörung. Themenfelder, die oftmals außerhalb des rechtswissenschaftlichen kriminologischen Interesses stehen, aber von hoher globalgesellschaftlicher Relevanz sind. Eine Schließung des Studienganges würde somit zu einer juristisch geprägten Engführung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kriminalität, Unsicherheit und ihrer Interventionen auf Mikro- wie Makroebene führen.

 

Das, was gesellschaftlich als „Kriminalität“ verhandelt wird, kann nur durch eine Vielfalt (sozial-)wissenschaftlicher Ansätze und Methoden umfassend und (instanzen-)kritisch sinnvoll erforscht werden kann. Ein Ende der kritischen Kriminologie an der Universität Hamburg wäre gleichbedeutend mit dem Verlust von Perspektivenvielfalt und einem wissenschaftsreflexiven Kriminologie-Studium, welches seine Forschung eigenständig ausrichtet, ohne sich an dem Nutzeninteresse von Strafverfolgungs- oder Sicherheitsbehörden zu orientieren. Ihr Ende wäre langfristig überdies auch für die rechtswissenschaftliche kriminologische Forschung von Nachteil, da hier ein wichtiger sozialwissenschaftlicher Impulsgeber wegbrechen würde.

 

Die Situation des Studienganges der „Internationalen Kriminologie“ kann seit der Emeritierung von Prof. Dr. Fritz Sack im Jahr 1996 als durchgehend prekär bezeichnet werden, da die Ausstattung mit Professor*innenstellen seitdem mangelhaft war. Dieser Prekarität steht aber ebenfalls seit jeher ein immenses Interesse seitens der Studierenden gegenüber. Mit Blick auf die jährlich überdurchschnittlich hohen Bewerbungszahlen würde also ein erfolgreicher und enorm nachgefragter Studiengang eingestellt werden. Das ausgeprägte Interesse der Studierenden an dem Studiengang ist dabei kaum überraschend. Aufgrund seiner einzigartigen Ausrichtung zieht er regelmäßig Studierende aus dem Ausland und aus den Bachelor-Studiengängen verschiedener Fachdisziplinen an.

 

Das Ende des Studienganges würde zudem in eine Zeit fallen, in der zentrale Schwerpunkte und Themen, die in ihm behandelt werden, in wissenschaftlichen Fachdebatten, in der medialen Öffentlichkeit und in der Gesellschaft insgesamt omnipräsent sind. Dazu gehören Fragen wie jene danach, wie „kriminologische Tatsachen“ hergestellt werden und zu politischen Techniken der Regierung von Problemen werden, wie beispielsweise im Umgang mit gesellschaftlichen Protesten oder den Auswirkungen von datenbasierten Überwachungsprogrammen, der Entstehung von Eskalationen im Rahmen sozialer Konflikte oder den Folgen einer sicherheitspolitisch dominierten Kontrolle von Migrationsprozessen. Auf diese Fragen kann die Kritische Kriminologie Hamburgischer Prägung, mit ihrer interdisziplinär angesiedelten Auseinandersetzung fachkundige Antworten geben.

 

Auf diese Weise spielt der Studiengang nicht nur eine diskursprägende Rolle in wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fachdebatten, sondern auch eine aufklärerisch-praktische, indem z.B. zahlreiche Absolvent*innen des Studienganges in Polizeihochschulen verschiedener Bundesländer den polizeilichen Nachwuchs ausbilden. Gerade aufgrund der zahlreichen Krisen in den vergangenen Jahren in der hiesigen Polizei erscheint eine rechtsstaatlich begründete Ausbildung von Polizist*innen derzeit wichtiger denn je. Die Schließung des Masterstudienganges „Internationale Kriminologie“ würde dementsprechend nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gesellschaftspolitisch einen erheblichen Verlust darstellen, denn neben der Polizeiausbildung sind Absolvent*innen des Studienganges zahlreich in Politik, Forschung, Justiz und NGOs tätig.

 

Wir, die Herausgeber*innen des Kriminologischen Journals, fordern daher, dass der Studiengang „Internationale Kriminologie“ erhalten bleibt und die personellen Ressourcen des Studiengangs so aufgestockt werden, dass eine langfristige Durchführung des Studiengangs gewährleistet ist.

 

 

Unterzeichner*innen

 

Prof. Dr. Martina Althoff, Rijksuniversiteit Groningen

 

Prof. Dr. Bernd Belina, Goethe Universität Frankfurt

 

Prof. Dr. (em.) Helga Cremer-Schäfer, Goethe Universität Frankfurt

 

PD Dr. Michael Dellwing, Leuphana Universität Lüneburg

 

Prof. Dr. Bernd Dollinger, Universität Siegen

 

Dr. Simon Egbert, Universität Bielefeld

 

Prof. Dr. Walter Fuchs, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

 

Prof. Dr. Christine Graebsch, Fachhochschule Dortmund

 

Prof. Dr. Daniela Klimke, Polizeiakademie Niedersachsen

 

PD Dr. Reinhard Kreissl, Vienna Centre for Societal Security (VICESSE)

 

Prof. Dr. Andrea Kretschmann, Leuphana Universität Lüneburg

 

Dirk Lampe, M.A., Deutsches Jugendinstitut München

 

Dr. Aldo Legnaro, Freier Sozialwissenschaftler Köln

 

Prof. Dr. Birgit Menzel, HAW Hamburg

 

Jun.-Prof.'in Dr. Dörte Negnal, Universität Siegen

 

Dr. Lars Ostermeier, Freie Universität Berlin

 

Dr. Bettina Paul, Universität Hamburg

 

Prof. Dr. (em.) Helge Peters, Universität Oldenburg

 

Prof. Dr. Jens Puschke, Philipps-Universität Marburg

 

Prof. Dr. Dorothea Rzepka, Ev. Hochschule Darmstadt

 

Prof. Dr. (em.) Fritz Sack, Universität Hamburg

 

Dr. Christina Schlepper, Landeskriminalamt Bremen

 

Vertret.-Prof. Dr. Holger Schmidt, Technische Universität Dortmund

 

Prof. Dr. Henning Schmidt-Semisch, Universität Bremen

 

Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Ruhr-Universität Bochum

 

Seniorprofessor Dr. Johannes Stehr, Ev. Hochschule Darmstadt

 

Prof. Dr. Gabi Temme, Hochschule Düsseldorf

 

Dr. Katja Thane, Universität Bremen

 

Dr. Meropi Tzanetakis, Universität Innsbruck

 

Prof. Dr. Jan Wehrheim, Universität Duisburg-Essen

 

Dr. Bernd Werse, Goethe Universität Frankfurt

 

 

 

Institutionelle Mitglieder:

 

Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie, Universität Innsbruck (IRKS)

 

Vienna Center for Societal Security (VICESSE)

 

 

Aktuelles

DFG-Graduiertenkolleg "Folgen Sozialer Hilfen"

Tagung am 07./08. September 2023

Die Tagung wird von Kollegiat*innen der ersten Kohorte des DFG-Graduiertenkollegs „Folgen sozialer Hilfen“ organisiert und findet am 7./8. September 2023 an der Universität Siegen (Campus Unteres Schloss) statt. Sie richtet sich an ein interessiertes Fachpublikum aus der theoretischen und empirischen Forschung der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie. In Keynotes, Panelbeiträgen und Postersessions werden die folgenden Themenfelder vorgestellt und diskutiert:

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Kriminologisches Sommerfest 01.07. Berlin

Kriminologiches Sommerfest von GiwK und KrimJ am 01.07.2023 in Berlin

Die Zeitschrift Kriminologisches Journal (KrimJ) und die Gesellschaft für interdisziplinäre wissenschaftliche Kriminologie (GiwK) lade ein zum Sommerfest mit Getränken & Snacks, Preisverleihung des Fritz-Sack-Preises und Buchvorstellung: Marxism and Criminology. A History of Criminal Selectivity von Valeria Vegh Weis.

Ort: Humboldt-Universität zu Berlin, Ziegeleistraße 4

Zeit: 16:00 Uhr

Die Teilnahme ist kostenlos. Für die Planung bitten wir um Anmeldung bis spätestens 20.06.23 unter: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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Jahrestagung Sektion soziale Probleme und soziale Kontrolle

Call for papers „Alles neu!? Problemsoziologische Perspektiven auf Semantiken und Praktiken sozialer Innovation und Transformation“

Jahrestagung der Sektion soziale Probleme und soziale Kontrolle in der Deutschen Gesell-schaft für Soziologie am 17./18.11.2023 in Hannover

Wenngleich Ideen, die gegenwärtig mit dem Begriff der sozialen Innovation belegt werden, selbst keineswegs Anspruch auf Neuigkeit erheben können (vgl. u. a. Popplow 2021), ist in jüngerer Zeit ein vermehrtes politisches wie auch wissenschaftliches Interesse an dem theo-retischen Konzept sowie entsprechend markierten empirischen Phänomen zu vermerken (Schüll et al. 2022; Howaldt 2022). Soziale Ungleichheiten, gesellschaftlicher Wandel und di-verse – aktuelle wie sich abzeichnende – Krisenphänomene (u. a. COVID-19-Pandemie, Kriege, Migrationsbewegungen, Klimawandel) leisten Diskussionen um soziale Innovation und Transformation zusätzlichen Vorschub. Diesen als miteinander verschränkt wahrgenomme-nen gesellschaftlichen Entwicklungen soll, zumindest auf programmatischer Ebene, durch so-ziale Innovationen begegnet werden – sie fungieren hier als „Instrumente gesellschaftlicher Gestaltung“ wie auch als Mittel zur „Steuerung sozialen Wandels“ (Schubert 2016: 409). Als konstitutiv für soziale Innovation gelten dabei Merkmale wie Anders- und Neuartigkeit sowie der Anspruch, gesellschaftliche Phänomene, Entwicklungen wie auch individuelle Lebensäußerungen unter „Bezugnahme auf gesellschaftlich hoch geachtete Werte und anerkannte Ziel-dimensionen“ (Schüll 2022: 33) zu einem ‚Besseren‘ zu beeinflussen.

 

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Workshop Goethe-Universität Frankfurt

„Not kennt kein Gebot? Hunger und Devianz in Rechtsgeschichte und Kriminologie“

Hunger gehört bis heute zu den größten ungelösten Problemen der Menschheit. Die Unterernährung gravierender Teile der Weltbevölkerung hat zuletzt stark zugenommen und damit wieder an Bedeutung gewonnen. Das Ernährungsproblem betrifft dann nicht nur einzelne Menschen, sondern bedroht ganze Gesellschaften. Nahrungsmittelknappheit kann dabei unterschiedliche Formen annehmen und von wiederkehrenden, durch Missernten, Kriege oder Naturkatastrophen ausgelösten Hungersnöten bis hin zu längeren Perioden der Unterernährung von einzelnen Gruppen oder ganzen Bevölkerungen reichen.

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Call for Papers zum KrimJ Schwerpunktheft 4/2023

„Method(ologi)en kritisch-kriminologischer Forschung“

Forschung in und über Kriminalisierungs- und Ausgrenzungsprozesse, soziale Probleme und soziale Kontrolle stellt sich besonderen Herausforderungen. Gegenstände kritisch-kriminologischer Forschungen sind Teil öffentlicher Problematisierungen und so normativ und (kriminal)politisch aufgeladen, bisweilen polarisieren sie. Dies liegt auch daran, dass die Gegenstände häufig aus eben jenen Praxisbezügen heraus generiert werden und gesellschaftliche Ordnungsverhältnisse adressieren.

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